Chronik
eines Extremsportunfalls
Die Nissan Outdoorgames:
Vom 24.-30.06.2007 fand im
Schweizerischen Interlaken
die dritte Edition der Outdoorgames
statt (www.outdoorgames.ch).
Neben diversen Wettkämpfen
in verschiedenen Outdoor-Sportarten
ist ein Extremsport-Filmwettbewerb
Hauptbestandteil dieser Veranstaltung.
Im Rahmen dieses Filmwettbewerbs
wird innerhalb von nur fünf
Tagen ein 4-5 Minuten langer
Kurzfilm produziert, der am
Ende der Veranstaltung einer
Jury und dem Publikum präsentiert
und prämiert wird.
Insgesamt waren 2007 sechs
internationale Film-Teams
zugelassen, die sich laut
Reglement aus einem Kamera-Team
(1-2 Personen), einem Fotografen
sowie je ein oder zwei Sportlern
aus den Sportarten Gleitschirm
oder Speedflying, B.A.S.E.jumping,
Kayaking, Mountainbike und
Klettern zusammensetzen.
Alle teilnehmenden Sportler
müssen ausnahmslos Top
Athleten in ihrem Sport sein
und entsprechende Referenzen
vorweisen können. Der
Kurzfilm muss von jeder genannten
Sportart mindestens eine Sequenz
beinhalten, die Story ist
frei wählbar.
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Der
27-jährige Max
Biedermann ist mit
11 Jahren Flugerfahrung
ein versierter Gleitschirm-Pilot.
Seit acht Jahren gehört
der Tiroler zu den wenigen
Akrobatik-Piloten, die
mit dem Gleitschirm
spektakuläre Kunststücke
fliegen und zählt,
spätestens seit
seiner Teilnahme an
den Weltmeisterschaften
2006, zu den weltbesten
Akrobatik-Piloten. Als
einer der ersten Europäer
fliegt Max Biedermann
seit 3 Jahren den so
genannten "Speedflyer".
Max ist semiprofessioneller
Pilot und verdient seinen
Lebensunterhalt als
Unternehmer im familieneigenen
Elektroinstallationsbetrieb
in Hopfgarten / Tirol
(Österreich).
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Speedflying ist ein
sehr junger Sport und eine
Mischung aus Gleitschirmfliegen
und Skifahren. Speedflying-Schirme
sind durch eine am Fallschirm-Profil
angelehnte Bauweise mit einer
Größe von nur 10-14
m² (zum Vergleich: Gleitschirme
sind ca. 20-30 m² groß)
extrem wendig. Durch diese
kompakte Bauweise (kleine
Kappe mit flachem Profil)
werden mit dem Speedflying-Schirm
sehr hohe Horizontal- und
Vertikal-Geschwindigkeiten
von bis über 100 km/h
erreicht. Wegen der notwendigen
hohen Start- und Landegeschwindigkeit
ist der Speedflyer nicht für
"Fußstarts"
geeignet.
Da ich nur wenige Wochen
zuvor unterrichtet wurde,
dass ich erneut an den Outdoorgames
teilnehmen sollte, war die
Zusammenstellung des Teams
etwas chaotisch, wodurch auch
der Team-Name "CHAOS"
zustande kam. Noch wenige
Tage vor Veranstaltungsbeginn
war die Besetzung einiger
Sportler und unseres Fotografen
nicht klar und entschied sich
erst im letzten Moment.
Der Tiroler Max Biedermann,
der in unserem Team als Gleitschirm-Pilot
fliegen sollte, war wie ich
zum zweiten Mal dabei. Wir
hatten uns durch die Outdoorgames
2006 kennen gelernt, sind
seitdem befreundet und haben
mittlerweile viel miteinander
gefilmt.
Werner Rumel wurde als langjähriger
Freund von Max als Kletterer
ins Team geholt. Neben Daniel
Schäfer (Mountainbike),
Simon Strohmeier (Kayak),
Matt Gerdes (B.A.S.E.jump),
Jean Yves Blondeau (Kamera-Assistenz)
und Patrik Lindqvist (Foto)
nimmt der Berner Simon Raaflaub
eine Sonderstellung ein:
Da ich an meinen Kurzfilm
den Anspruch stellte, nicht
nur einfach einen "lustigen"
oder "Action-" Film
zu produzieren, hatte ich
mir folgende Geschichte ausgedacht:
Ich beabsichtigte mit einem
Rollstuhlfahrer zu drehen
und die atemberaubenden Fähigkeiten
der gesunden Sportler der
Leistung "laufen zu können"
gegenüberzustellen. Da
dieser Ansatz allerdings den
Veranstaltern nicht so recht
gefallen wollte (sie hatten
die begründete Befürchtung,
dass vor allem in den Medien
eine voreilige Brücke
zwischen Extremsport und Rollstuhl
geschlagen werden könnte),
suchte ich nach einem neuen
Weg, meine Geschichte "ohne
Rollstuhl" zu erzählen.
Über das Schweizer Paralympische
Komitee kam ich an Simon Raaflaub,
der mit 11 Jahren durch Knochenkrebs
sein rechtes Bein verloren
und bei den Paralympischen
Spielen 2006 in Turin den
fünften Platz auf Ski
belegt hatte. Er war sofort
bereit, bei unserem Projekt
mitzuwirken (www.onefoot.ch).
Die Outdoorgames 2007:
Der Wetterbericht hatte bereits
im Vorfeld eine nasskalte
Woche angekündigt, was
die Produktionsbedingungen
sehr erschwerte. Als Drehtage
waren Montag bis Donnerstag
eingeplant, der Freitag war
komplett für den Schnitt
reserviert (Film-Abgabe war
am Freitag um 18 Uhr). Vor
allem für die Luftsportler
(B.A.S.E.jumping, Paragliding)
ist ein stabiles Wetter absolute
Voraussetzung für die
sichere Ausübung ihres
Sports. Deshalb entschieden
wir uns, zunächst alle
anderen Sportsequenzen und
Interviews zu drehen und auf
die angekündigte Wetterbesserung
am letzten Drehtag zu warten.
Der Mittwochnachmittag brachte
dann tatsächlich die
ersehnte Wetterbesserung und
Max machte sich auf den Weg
zum "Wetterhornaufzug"
in Grindelwald. Er hatte die
Location schon seit den Outdoorgames
2006 im Kopf und tüftelte
seither an der Umsetzung.
Der Sprung von der stillgelegten
Gondelstation sollte das sportliche
Highlight unseres Films werden.
Max war bereits zwei Tage
vor Veranstaltungsbeginn als
erstes Teammitglied nach Grindelwald
gekommen, um sich die Station
immer wieder anzusehen. Am
Mittwochabend kam schließlich
der Anruf: "Wenn das
Wetter morgen früh gut
ist und kein Wind geht mache
ich es! Ich gehe morgen um
6 Uhr rauf und rufe Euch gegen
8 Uhr an ob es geht."
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Am
Morgen des 28. Juni
fällt der Startschuss:
"Ich glaube wir
können es machen,
kommt rauf!" Eilig
packen Jean Yves, Patrik,
Werner, Daniel und ich
unsere Ausrüstung
zusammen und machen
uns auf den Weg. Von
der letzten Parkmöglichkeit
in Grindelwald bis zur
1.677 Meter hoch gelegenen
Bergstation Enge ist
es rund eine Stunde
Fußmarsch. Kurz
vor 10 Uhr erreichen
wir Max, der schon seit
gut drei Stunden die
Windverhältnisse
prüft. Das Wetter
ist stabil, die Sonne
strahlt durch einen
tiefblauen Himmel, kein
Wind - es könnte
kaum perfekter sein!
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Wir sehen uns um und sind
sofort alle von der Location
begeistert. Der Wetterhornaufzug
wurde 1908 als erste für
den Personenverkehr bestimmte
und mit allen erforderlichen
Sicherheitseinrichtungen versehene
Luftseilbahn der Welt in Betrieb
genommen. Durch Ausbruch des
ersten Weltkriegs musste aber
nach sechs Jahren der Betrieb
eingestellt werden. Heute
thront nur noch die Ruine
der Bergstation Enge wie ein
Adlerhorst auf der rund 400
Meter hohen Felswand über
dem Grindelwaldgletscher.
Hier will Max Biedermann
also einen Stunt ausführen,
den vor ihm noch nie jemand
zuvor versucht hat. Der so
genannte "Roll Over",
ein Vorwärtssalto über
den unter ihm hängenden
Schirm, hat mit dem "normalen"
Gleitschirmfliegen nichts
zu tun. Max hatte diesen Absprung
erstmalig von einem Heißluftballon
im September 2006 erfolgreich
absolviert. Neu an diesem
Stunt in Grindelwald war,
dass Max nun nicht von einem
fliegenden Objekt, sondern
über einer Felswand abspringen
wollte.
Als ich mir den Stahlträger,
der ca. 4 Meter über
die Felswand hinausragt, ansehe,
bin ich skeptisch. Ist er
verrostet, hält er der
Belastung von zwei Personen
stand? Werden Max und ich
von dem tonnenschweren Gerüst
am Ende in die Tiefe gerissen?
Werner baut sorgfältig
eine fachmännische, alpine
Sicherung auf und tastet sich
am Seil gesichert auf den
Strahlträger vor. Zögernd
beginnt er zu wippen - und
das Gerüst hält.
Wir beginnen meine Sicherung
aufzubauen, denn ich werde
mich zum Filmen zusammen mit
Max über den gähnenden
Abgrund begeben. Dabei müssen
wir darauf achten, dass die
Sicherungsseile so geführt
sind, dass wir eine Chance
haben bei einem eventuellen
Absturz des Stahlkolosses
nicht von diesem erschlagen
zu werden.
Jeder Schritt auf dem schmalen
Stahlgestänge kostet
Überwindung, denn es
vibriert bei der kleinsten
Bewegung. Vorsichtig setze
ich mich auf meine Position,
während Max sein Gurtzeug
anzieht. Dann hangelt sich
Max auf den großen Querträger
vor. Minutenlang tariert er
den unter sich hängenden
Speedflying-Schirm aus und
prüft den Wind. Max klinkt
sich aus dem Sicherungsseil
aus. "Falls irgendwas
schief geht - es ist meine
eigene Entscheidung gewesen."
Sagt er mir in die Kamera.
Nur 30 Sekunden später
springt Max Biedermann fast
in seinen Tod.
Es geht alles ganz schnell.
Der Speedflying-Schirm öffnet
sich eigentlich perfekt, doch
3 Sekunden nach Absprung beginnen
sich plötzlich die Leinen
zu verdrillen. Der Schirm
fällt in sich zusammen
und ist nicht mehr steuerbar.
Nach 10 Sekunden schlägt
Max zum ersten Mal gegen die
Felswand, dann ein zweites
Mal. Nach 17 Sekunden verzweifeltem
Kampf mit seinem Schirm und
rund 350 Höhenmetern
schlägt Max im nackten
Fels ein. Noch während
er durch den Fels rutscht
wählt Werner auf seinem
Handy die Notruf-Nummer. 32
Sekunden nach dem Absprung
kommt Max im Fels zum Liegen.
Während Max regungslos
in der Steilwand liegt beginnen
für uns bange Minuten.
Lebt Max noch? Wir versuchen
uns zu sammeln und klare,
sinnvolle Entscheidungen zu
treffen. Thilo Brunner, der
uns als offizieller Fotograf
der Outdoorgames zur Gondelstation
begleitet hat, ist selbst
Kletterer und begibt sich
auf einen ca. 45-minütigen
Abstieg in schwierigstes Gelände,
um Max zu helfen.
Für mich stellt sich
schnell die Frage ob ich weiter
filmen soll oder nicht. Ich
entscheide mich dafür,
weil ich von dort oben Max
in keiner Weise helfen kann.
So dokumentiere ich die gesamte
Rettungsaktion mit meiner
Kamera.
Nach wenigen Minuten beginnt
Max sich zu bewegen und wir
atmen auf - er lebt! Aber
das Warten auf die Bergrettung
kommt uns wie eine Ewigkeit
vor.
Der Rettungshubschrauber
der Schweizerischen REGA trifft
nur 19 Minuten nach Max´
Absturz an der Unfallstelle
ein. Während die Bergretter
über der Absturzstelle
kreisen und sich ein Bild
von der Situation machen stürzt
Max ein zweites Mal ab: Bei
dem Versuch sich aufzurichten
hat er keine Chance sich im
extrem steilen Fels festzuhalten
und fällt laut Einschätzung
der Bergretter kopfüber
weitere 50 Meter tief. Spätestens
jetzt geht die Bergrettung
von einer Totbergung aus -
aber wir können von oben
sehen, dass Max sich noch
immer bewegt.
44 Minuten nach dem Absturz
setzt der Helikopter zwei
Bergretter auf einem Plateau
oberhalb der Absturzstelle
ab, da der Helikopter Max
bei direkter Annäherung
gefährden würde.
Der Abstieg der Bergretter
dauert in dem extrem schwierigen
Gelände weitere 19 Minuten.
Währenddessen versucht
Max, im Schock aufzustehen
und stürzt ein drittes
Mal ab!
Die beiden Bergretter treffen
nahezu zeitgleich mit Thilo
Brunner direkt oberhalb von
Max ein und seilen sich zu
ihm ab. Nachdem Max gesichert
ist wird der Notarzt per Helikopter
eingeflogen. 86 Minuten nach
seinem Absturz wird Max an
einer Seilwinde hängend
ausgeflogen.
Nach dem Unfall gingen mir
Duzende Gedanken durch den
Kopf, wie es nun weitergehen
sollte. Wie geht es Max? Sollen
wir unseren Wettkampf-Film
zu Ende bringen? Ich hatte
eine lange Unterredung mit
den Event-Veranstaltern, die
mir vorschlugen, den Film
außer Konkurrenz fertig
zu stellen. Allerdings hatten
wir auch einen ganzen Drehtag
verloren. Und eigentlich wollte
ich nicht weitermachen. Und
ich hatte Angst vor allzu
vielen Fragen der Konkurrenz-Teams.
Recht schnell meldete sich
dann auch die Polizei bei
mir und wollte eine Aussage
aller Beteiligten aufnehmen
und mein Videomaterial einsehen.
Am folgenden Nachmittag besuchte
ich Max im Krankenhaus
in Bern. Nachdem man ihn für
nähere Untersuchungen
in ein künstliches Koma
versetzt hatte war er in einem
erstaunlich guten Zustand.
Die Verletzungen beschränkten
sich im Wesentlichen auf eine
Fraktur der linken Schulter
sowie beider Wadenbein-Köpfe
und Blutgerinnsel im Gehirn.
Da keine schweren Folgeschäden
zu erwarten waren, waren wir
sehr erleichtert und entschlossen
uns im Einvernehmen mit Max,
den Film außerhalb der
Konkurrenz fertig zu stellen.
Max´ Heilungsprozess
geht schnell voran, nach nur
zwei Wochen lief er bereits
ohne Krücken. Täglich
besucht Max für zwei
Stunden ein Reha-Zentrum,
wo er seine Koordination und
Kraft trainiert. Nach der
letzten neurologischen Untersuchung
wird die endgültige Genesung
noch rund 6-12 Monate dauern.
Nur sieben Wochen nach dem
Unfall startete Max Mitte
September zum ersten Mal seinen
Gleitschirm und ist seitdem
wieder regelmäßig
beim Gleitschirmfliegen anzutreffen.